Radfahrer*innen auf dem Bürgersteig – oder: Kants Kritik an der alltäglichen Unvernunft

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Gestern war es soweit: Wie oft treffe ich auf Radfahrer*innen auf Bürgersteigen? Wie oft hatte ich schon Sorge, dass ein älteres Ehepaar in meinem Haus – beide über 80 und mobilitätseingeschränkt – von einem Fahrrad (mit fatalen Folgen) erfasst werden? Was habe ich mich aufgeregt, als ein sechsjähriges Mädchen von einer Radfahrerin angefahren wurde. Das Mädchen erlitt einen Beinbruch, musste wochenlang einen Gips tragen und war auf einen Rollstuhl angewiesen. Wie oft wäre ich schon fast in ein Rad auf dem Fußgängerweg gelaufen, wenn ich nichts ahnend eilends das Haus verlasse?

Als mir am Sonntag eine ganze Radfahrergruppe entgegen kam, reichte es mir und ich postete ein Sharepic auf Facebook –  mit folgendem Text:

Radfahrer

Liebe Radfahrer*innen, 
wenn Ihr auf dem Bürgersteig fahrt, gefährdet Ihr die schwächsten Verkehrsteilnehmer, die Fußgänger*innen … aber auch Euch selbst!
Wie oft erleben Fußgänger*innen, dass man das Haus verlässt und fast in ein Rad läuft. So wurde auf der Straße, die Ihr auf dem Bild seht, beispielsweise ein sechsjähriges Mädchen von einer Radfahrerin erwischt. Die Folge: Ein Beinbruch und wochenlang Gips für das Kind.
Ich weiß, dass es für Radfahrer*innen auf der Straße oft gefährlich oder unangenehm ist, aber passt bitte auf und achtet auf die Fußgänger*innen. Fußgänger*innen sind wir schließlich alle …
Danke! 

Mit Widerspruch habe ich gerechnet. Die Argumente, die dann tatsächlich kamen, waren dann auch vorhersehbar und lauteten sinngemäß:

Radfahrer*innen fahren nicht aus Spaß auf Bürgersteigen. Die Fahrradinfrastruktur in Köln ist so schlecht, dass Radfahrer*innen genötigt sind, auf Fußgängerwege auszuweichen. Noch immer wird ihnen in Köln nicht der Raum zugestanden, der ihnen angesichts der zunehmenden Bedeutung des Radverkehrs und einer gewollten Mobilitätswende zusteht – und eingeräumt werden müsste, damit Radfahren in Köln attraktiv und sicher ist. Oder anders formuliert: Fahrradfahrer*innen haben oft  Angst!

Die Hinweise sind an vielen Stellen (trotz aller Whatsaboutism und tu-quoque-Argumente à la „warum regt sich niemand über die Fußgänger*innen auf“,  „ihr Fußgänger*innen geht doch auch auf Radwegen …“) psychologisch nachvollziehbar und berechtigt. Ja, die Radinfrastruktur ist an vielen Stellen mies. Ja, Köln hat da einen großen Nachholbedarf. Ja, auch Fußgänger*innen verhalten sich oft rücksichtslos; unaufmerksam gelegentlich auch ich.

Natürlich gibt es auch Stellen, die Verkehrswidrigkeit und Konflikte provozieren. Sie müssen benannt und dann geändert werden. Es gibt Verkehrsführungen, die schlichtweg dämlich sind. Darunter leiden viele Radfahrer*innen Tag täglich (aber auch Fußgänger*innen, weil in vielen Fällen ein Mehr an Radfahrfreundlichkeit zulasten der Fußgänger*innen geschaffen wird – Stichwort: Öffnung von Fußgängerzonen).

Aber: Berechtigen sie Fahrradfahrer*innen dazu, auf Fußgängerwegen zu fahren? Nein.

In der Rechtswissenschaft gibt es den Satz: Es gibt keine Gleichheit im Unrecht. Auf den konkreten Fall bezogen, heißt das: Weil Fahrradfahrer*innen im Vergleich zum motorisierten Verkehr benachteiligt sind (oder sich benachteiligt fühlen), dürfen sie nicht im Gegenzug das Recht anderer verletzen oder verlangen, dass auch sie benachteiligt werden. Setzten sie sich über bestehendes Recht hinweg, weil ihnen vermeintlich Recht genommen wird, ist dies unrecht oder ein Akt der Selbstjustiz (denn sie stellen sich über bestehendes Recht – von Notwehr möchte ich nicht sprechen, weil sie ja das Recht Unbeteiligter verletzen und diese dadurch gefährden).

Auch wenn ich das Beispiel einmal ethisch durchbustabiere und mit Kants kategorischem Imperativ um die Ecke komme – gleichsam als Kritik an der alltäglichen Unvernunft: So wie ich (als Radfahrer*in) sicher im Verkehr vorwärts kommen möchte, muss ich das auch anderen zugestehen. Kann ich wollen, andere zu gefährden, wenn ich mich über diejenigen stärkeren Verkehrsteilnehmer aufrege, die meinen Radweg oder meine Radspur versperren, den Mindestabstand nicht einhalten etc.? Vielmehr müsste ich eigentlich umso mehr erahnen, wie es ist, in der deutlich schwächeren Position zu sein.

Kann ich als Radfahrer*in wollen, dass Radfahrer*innen ständig auf dem Bürgersteig fahren, wenn ich bedenke, welch schmerzhafte Folgen es hätte, wenn eine solche Praxis zur Regel würde? Wohl kaum. Darf ich, um nicht selbst gefährdet zu werden, in Kauf nehmen, andere zu gefährden? Nein. Nicht umsonst ist das Radfahren auf Fußgängerwegen (von Ausnahmen abgesehen) schlicht verboten (StVO und so …).

Wenn Radfahrer*innen auf Bürgersteigen fahren, sind Fußgänger*innen in der eindeutig schwächeren Position. Den Druck, den ich als Radfahrer*in selbst empfinde, an Schwächere – besonders an Kinder und ältere Menschen – weiterzugeben, ist nicht statthaft.

Was vielleicht abgehoben klingt, ist der Versuch einer Reflexion, durch die die persönliche Betroffenheit nicht zum Maßstab politischer Entscheidungen wird. Man wird es kaum glauben: auch dazu sind wir politisch Engagierten gelegentlich fähig. Bei aller Abwägung unterschiedlicher Interessen will ich als Sozialdemokratin die Schwächsten nicht aus den Augen verlieren (wo ist eigentlich die Fußgänger*innen-Lobby?).

Zu guter Letzt: Ist es tatsächlich so, dass Radfahrer*innen auf der Straße fahren würden, wenn die Radinfrastruktur besser wäre. Sind Radfahrer*innen nur Opfer ominöser Mächte (die Verwaltung, die Politik … die fehlende Infrastruktur)? Frei nach Brecht: „Wir wären gut, anstatt zu roh, doch die Verhältnisse, die sind nicht so …“? Mehr Radfahrer*innen vielleicht. Ist es aber nicht auch Bequemlichkeit, die dazu verleitet, den Bürgersteig zu nutzen, weil sie z.B. auf die andere Straßenseite wechseln oder einen Umweg in Kauf nehmen müssten? (das sharepic wurde übrigens an einem Sonntag aufgenommen, als die Straße leer war)?

P.S. Liebe Radfahrer*innen, das nächste Mal dürft ihr auch wieder richtig schimpfen, wenn Fußgänger*innen auf dem Radweg spazieren – versprochen!

Über mich

Mitglied der Bezirksvertretung Köln-Innenstadt, Sachkundige Bürgerin im Liegenschaftsausschuss des Rates der Stadt Köln

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